Tutzing kann ein Manifest für das Neue Europäische Bauhaus ausrufen
Ralf Weiß
30. August 2021
Ein kurzer Rückblick vor einem weiten Ausblick: Alle waren betroffen. Fast alles in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur stand still. Ungeplant und unerwartet starteten die 2020er Jahre mit einem Fehlstart, mit einer Pandemie. Die Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts hatten in Deutschland mit der ersten Demokratie, dem Jazz und den ersten Naturschutzgebieten begonnen. Es folgten die Goldenen Zwanziger. Vorausgegangen war jedoch auch vor 100 Jahren eine Pandemie, die in drei Wellen bis zum Frühjahr 1920 mehr Tote als der Erste Weltkrieg gefordert hatte. Die gegenwärtige Pandemie COVID19 steht so in einer langen Reihe mit der Spanischen Grippe und als SARS-CoV-2 in einer kürzeren Reihe mit der ersten SARS-Pandemie (SARS-CoV) zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Versteht man Pandemie im griechischen Wortsinne als Angelegenheit, die das ganze Volk heimsucht und universal alle Menschen betrifft, geraten weitere pandemische Krisenreihen in den Blick: die Weltwirtschaftskrise (1929) und die Weltfinanzkrise (2007), Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011), die Globale Umweltkrise (20. Jhd.) und die Globale Klimakrise (21. Jhd.).
Weltrisikogesellschaft und Zwangskosmopolitismus
In den Worten von Ulrich Beck resultiert aus den Folgen und Nebenfolgen von Pandemien wie SARS, Tschernobyl, Klimawandel oder nun COVID19 eine Weltrisikogesellschaft und ein Zwangskosmopolitismus. Anthony Giddens beschreibt die Gesellschaften der Moderne angesichts globaler Risiken als Dschagganath-Wagen, den wir zwar phasenweise steuern können, der sich aber letztlich unserer Kontrolle entzieht. COVID19 entzieht sich unserer Kontrolle und übliche Planungen sind obsolet. Das Virus zwingt uns, auf Sicht zu fahren und zu improvisieren. COVID19 ist einerseits eine neue Krisenerfahrung ohne Muster und Drehbuch. Andererseits steht die aktuelle Pandemie in einer Serie von Krisen, die uns vor Augen führen, dass „wir bereits seit langem in einer anderen Welt [leben] als in der, in der wir denken.“ (1) An diesem „Ende der Illusionen“ (2) stehen wir keinesfalls ratlos da, sondern können wir sowohl auf klugen Krisenanalysen und langfristig vorgedachten Perspektiven aufbauen als auch beherzt und laborartig neue Wege erproben und einschlagen.
Paradigmenkrise und Klimakrise
Von zentraler Bedeutung ist es, im verengten Blick auf die Gefährdungen und Herausforderungen der Corona-Pandemie, nicht das große Bild und die langfristigen Herausforderungen aus dem Auge zu verlieren. Hierzu gehören mit dem Dynamisierungsliberalismus die Krise des Allgemeinen und der Klimawandel, worauf in der aktuellen Debatte insbesondere Andreas Reckwitz und Dirk Messner hinweisen (3). Hinter der Corona-Krise liegen demnach tiefere Krisen: eine Paradigmenkrise, eine sozioökonomische und soziokulturelle Krise, eine Krise der spätmodernen Demokratie sowie die Klimakrise.
Neue Form der Kulturalisierung
In einem fundamentalen Grundlagenwandel, der sich durch die aktuelle Corona-Krise weiter Bahn bricht, haben zwei große Transformationsperspektiven auch für die kulturelle Sphäre und den Kulturbereich eine maßgebliche Bedeutung: Die Perspektive einer Kultur des Allgemeinen und die Perspektive einer Nachhaltigen Entwicklung. Dabei geht es zunächst nicht primär um die in der Corona-Krise zentrale Frage von kultureller Infrastruktur und Ressourcen, sondern um eine neue Form der Kulturalisierung. Im Dilemma zwischen einer individualisierten Hyperkultur, deren Wert primär im Einzelnen und wenig im kollektiv Gemeinschaftlichen liegt, und einem kollektiv-vorgegebenen Kulturessenzialismus, der kaum Platz für Individualität und Heterogenität lässt, geht es einer Kultur des Allgemeinen um kulturelle Werte und Praktiken, die unabhängig von individuellen Lebensstilpräferenzen und einer Zugehörigkeit zu religiösen, ethnischen oder soziokulturellen Gruppen gemeinsam entstehen und Gemeinsamkeit schaffen. Wie vielfältige Solidaraktionen in der Corona-Krise zeigen, können auch gemeinsame oder globale Bedrohungen Anlass für neue Formen der soziokulturellen Vergesellschaftung bieten oder zu einer neuen Valorisierung führen.
Kultur des Allgemeinen in planetarischem Transformationsrahmen
Kultur muss künftig jedoch nicht nur allgemein wirken, sie muss auch nachhaltig wirken (4). Nachdem Nachhaltigkeit und Klimawandel lange Zeit im gesamten Kulturbereich nur punktuell eine Rolle gespielt hatten, hat die Diskussion um Kultur und Nachhaltigkeit im vergangenen Jahr durch die UN Agenda 2030 und insbesondere den Greta-Effekt eine erhebliche, zusätzliche Dynamik gewonnen und einen neuen kulturpolitischen Stellenwert erreicht (5). Die Solidarisierung mit der Fridays-for-Future-Bewegung hat den Kulturbereich zu einem neuen umweltpolitischen Akteur und Nachhaltigkeit sowie Klimawandel zu einem Top-Thema der Kulturpolitik gemacht. Eine Kultur des Allgemeinen ist damit auch in den planetarischen Transformationsrahmen der UN Agenda 2030 einzubetten. Dies erfordert nach der Pandemie eine Erweiterung der transformativen Kulturpolitik und nach dem Vorbild der New Deal-Politik Roosevelts eine Einrichtung neuer, umfangreicher Kulturprogramme zu Nachhaltigkeit und Klimaschutz auf Ebene des Bundes, der Länder sowie im Rahmen des Europäischen Green Deal.
Manifest für das Europäische Bauhaus
Ein pandemiebedingter Neustart Kultur zu einer Kultur des Allgemeinen innerhalb des planetarischen Transformationsrahmens der UN Agenda 2030 ist zwar kein Programm des Weiter-So, aber er lässt sich dennoch auf Bestehendem gründen. Es gibt einen wertvollen Vorrat an Vorgedachtem, Vorbereitetem sowie Vorausgegangenen und Vorausgerittenen. Die Entwürfe liegen in der Schublade, die Architekt*innen, die Kulturschaffenden und die Handwerker*innen sind bereit und es ist Zeit, sie das Programm machen und öffentlich vorstellen zu lassen. Vor 20 Jahren erkannte das Tutzinger Manifest (5): „Nachhaltigkeit braucht und produziert Kultur.“ Wir sind in der Lage, in einem neuen Tutzinger Manifest aufzuschreiben und aufzurufen, wie wir diese Kultur schaffen wollen. Das Neue Europäische Bauhaus will zu seinem Kern machen, was das Tutzinger Manifest 2001 proklamiert hatte: „Die Kategorie Schönheit wird zum elementaren Baustoff der Zukunft.“ Für die Zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts kann Tutzing im November das Manifest für das Neue Europäische Bauhaus ausrufen: „Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam die neue, nachhaltige Kultur der Zukunft.“ Auf dass im Jahr 2121 Anlass besteht, den 100-jährigen Aufbruch in eine zweite, nachhaltige Moderne zu feiern.
Quellen
(1) Beck, Ulrich (1993): Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, S. 61
(2) Reckwitz, Andreas (2019): Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne
(3) Reckwitz, Andreas (2020): Corona-Krise als Training. Der Staat wird zum Risikomanager, in: Tagesspiegel v. 05.04.2020 und Messner, Dirk (2020): Corona-Pandemie: Drei Krisen gleichzeitig, in: Die ZEIT v. 02.04.2020
(4) Knoblich, Tobias (2020): Kulturpolitik muss nachhaltig wirken. 10 Punkte für eine Kulturpolitik nach der Corona-Pandemie
(5) Weiß, Ralf (2020): Überblick zum aktuellen Stand der Diskussion zum Thema „Kultur und Nachhaltigkeit“. Kurzexpertise für das Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (i.E.)
(6) Kulturpolitische Gesellschaft (2001): Tutzinger Manifest für die Stärkung der kulturell-ästhetischen Dimension Nachhaltiger Entwicklung
Der Essay erschien erstmals in den Corona-Essays der Kulturpolitischen Gesellschaft im April 2020 und wurde für den Blog aktualisiert.
Autor