Argumente für eine kulturelle Dimension der Sustainable Development Goals
Gabriele Köhler
21. Oktober 2021
Raus aus der „SDG-Bubble“?
Im Jahr 2015 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN) einen Fahrplan für gerechte und nachhaltige Entwicklung, die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung: Transformation unserer Welt. Sie gilt für alle Länder und hebt besonders die Rechte der Armen und Ausgegrenzten hervor: ‚Leave no one behind’ lautet das zentrale Motto: „Wir sind entschlossen“, heißt es in der 2015 verabschiedeten Präambel der Agenda, „die kühnen und transformativen Schritte zu unternehmen, die dringend notwendig sind, um die Welt auf den Pfad der Nachhaltigkeit und der Widerstandsfähigkeit zu bringen. Wir versprechen, auf dieser gemeinsamen Reise, die wir heute antreten, niemanden zurückzulassen.“ Zu den Zielen gehört, bis 2030 extreme Armut und Hunger zu überwinden, Bildung und Gesundheitszugang, sauberes Wasser, und erneuerbare Energie für alle sicherzustellen. Dazu braucht es menschenwürdige Arbeitsbedingungen und Wohlstandsfortschritte. Mit Verweis auf das im gleichen Jahr verabschiedete Pariser Klimaabkommen widmen sich drei Ziele dem Schutz des Klimas und des Planeten. Und die Agenda verpflichtet zu Frieden, guter Regierungsführung, Wahrung der Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit und dem Abbau von Ungleichheiten. Die Agenda versteht Nachhaltigkeit also im umfassenden Sinne. Die Ziele sind als 17 SDGs – die sustainable development goals – zusammengefasst, jeweils mit Unterzielen und Messindikatoren. 193 Länder haben sich dazu bekannt und berichten seit 2016 reihum der VN-Generalversammlung über ihre Fortschritte.
Die Bundesregierung hat diese Agenda in ihre Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie (DNS) übernommen und ein komplexes Umsetzungsgebilde aus parlamentarischen Rät*innen und Staatssekretär*innen für Nachhaltigkeit geschaffen. Zudem ist der Rat für Nachhaltige Entwicklung mit vier regionalen Koordinationsstellen aktiv in der Verbreitung und lokalen Konkretisierung der Ziele in Deutschland. Einige Großunternehmen haben sich die 17 Ziele – oder zumindest die dazugehörigen Icons – angeeignet. Sehr präsent sind die SDGs in Teilen der Zivilgesellschaft, die mehr Ambition in den Zielen an sich, einen ganzheitlichen Bezug der Ziele aufeinander, und eine raschere Umsetzung von der Regierung einfordern. Dazu gehören Umweltaktivist*innen, Frauenrechtsorganisationen, und Wohlfahrtsverbände.
Die zivilgesellschaftlichen Gruppen und Initiativen in Deutschland und auch weltweit sind sehr aktiv, kreativ, und voller Energie. Aber zu einem gewissen Grad bewegen sie sich in „Bubbles“ – in freundschaftlichen Blasen von Nichtregierungsorganisationen, Arbeitskreisen oder informellen Gruppen, die zu gemeinsamen Aktionen und Druck auf die Politik zusammenfinden. Sie sind intensiv unter- und miteinander vernetzt und bestärken sich gegenseitig in ihren Ansichten zu einer gegebenen (tages-)politischen oder kulturellen Frage. In jüngster Zeit beobachten wir, wie neue und teils unerwartete Koalitionen entstehen, zum Beispiel in der Klimabewegung, die sich mit Gewerkschaftsanliegen solidarisiert, oder in der Asylrechtebewegung, die von Unternehmerkreisen Unterstützung erfährt. Da kommen bislang verschlossene „Bubbles“ zusammen.
Wie erreichen wir nun daran anknüpfend, dass die Nachhaltigkeitsziele auch denen bekannt sind und ein Anliegen werden, die sich nicht proaktiv in der deutschen Sozial- oder Wirtschaftspolitik oder in der Entwicklungszusammenarbeit bewegen oder sich mit diesen Politikfeldern beschäftigen? Wie springen wir über von der SDG-Bubble, als Beispiel, in die Kulturszene?
Rein in die Bubble!
Bei aller Bandbreite fehlt den SDGs ein wichtiges Thema: die Kultur. Der Vorspann der Agenda streift zwar die Rolle der ‚kulturellen Vielfalt’ und in den Zielen zu Beschäftigung und zu nachhaltigen Konsum- und Produktionsstrukturen wird auf die Bedeutung lokaler Kultur hingewiesen. Die Begriffe Kunst oder Kultur gibt es allerdings nicht in der Agenda, und damit auch kein eigenständiges Ziel zu ‚Kunst- und Kultur’. Lediglich das Weltkulturebene wird erwähnt.
Dafür gibt es Gründe. Reaktionäre und regressive Kreise wollten bei den Verhandlungen zu der Agenda 2030 durchaus Kultur miteinbeziehen. Sie wollten eine Vorstellung von kultureller Eigenständigkeit durchsetzen, die für sie eine Nichteinmischung in lokale Praktiken statt einer Verpflichtung zu den allgemeingültigen Menschenrechten bedeutet hätte. Dann wäre es ein Vorrecht von Nationalstaaten geblieben, darüber zu entscheiden, ob Genitalverstümmelung, Homophobie, oder die Unterdrückung und Verfolgung von Dissident*innen zu dulden sind. Gegen die Formulierung grundlegender Menschenrechte kämpfen manche Länder des globalen Südens schon seit den 1990er Jahre unter dem Vorwand eines Kulturrelativismus. Progressive Länder und zivilgesellschaftliche Organisationen entschieden sich bei den Verhandlungen daher, ganz gegen die Aufnahme eines Kultur-SDG zu stimmen.
Dennoch: es spräche einiges dafür, die Anliegen von Kunst und Kultur in die SDGs einzubauen, aufbauend vielleicht auf den vereinzelten Erwähnungen kultureller Verweise. Es würde darum gehen, die Freiheit einer progressiven, menschenrechtsbasierten Kultur einzufordern, ein Recht auf Teilhabe an Kultur, und das Recht auf unabhängiges Kulturschaffen mit adäquat ausgestatteten Budgets und als gangbares Berufsfeld zu unterstützen. Solche Ziele müssten von einer breiten progressiven Allianz formuliert werden, um sicherzustellen, dass sie nicht von Menschenrechtsfeinden gekapert werden. Einen progressiven Kulturbegriff in seiner Vielfalt zu verteidigen, setzt voraus, einen Begriff dessen zu haben, was Kultur im Kontext der nachhaltigen Entwicklungsziele bedeuten könnte.
In der Tat gab und gibt es Initiativen dazu, die Agenda 2030 auszuweiten. Schon bei Vorgängern der derzeitigen Agenda gab es Aufrufe zur Einbeziehung der kulturellen Dimension, beispielsweise in den Nachhaltigkeitsbegriff, denn nachhaltige Entwicklung und kulturelle Entfaltung seien voneinander abhängig. 2001 erschien das Tutzinger Manifest, das die „lokale, nationale und internationale Nachhaltigkeitspolitik auf(forderte), sich mehr als bisher den gesellschaftlichen Entwicklungspotenzialen von Kultur, Ästhetik und Kunst zu öffnen“ und in der damals aktuellen Agenda 21 zu berücksichtigen.
Zwanzig Jahre später ruft das Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit in Kultur und Medien (ANKM) (2020) zu einem Green New Deal für die Kultur auf. Künstler*innen und Redakteur*innen möchten „Pioniere“ vernetzen, um durch Aktionen und Veranstaltungen Einfluss zu nehmen – speziell auf die CO2-Reduktionsziele. Sie möchten „neue Erzählungen und Erlebnisse […] entwickeln, die die gesamte Gesellschaft in diese Generationenaufgabe mit einbeziehen und diese als bewältigbar erfahrbar machen.“ Sie haben auch einen CO2-Fussabdruck-Rechner für verschiedenste Kultureinrichtungen erstellt. Statt auf die SDGs wird hier implizit auf das Pariser Klimaankommen Bezug genommen; ein Anknüpfen an die Agenda 2030 wäre aber leicht machbar, über das klimapolitische SDG 13.
Die Vereinten Nationen, angestupst von der UNESCO, weisen breiter gefasst auf die Bedeutung von Kultur für soziale Inklusion, Resilienz und Entwicklung hin. Für einen genuin progressiven Kulturbegriff müssten allerdings andere „kulturelle“ Bewegungen mit einbezogen werden – alle Initiativen um Menschenrechte, Klima- und Ressourcengerechtigkeit. Eine Bewusstheit um das immense soziale und ökonomische Machtgefälle müsste in den Kulturbegriff eingearbeitet werden. Und um wirklich transformativ zu sein, wie es die Agenda 2030 verspricht, müssten auch die post-kolonialen Diskurse aufgearbeitet werden und die Initiativen in Europa müssten sich mit transformativen Bewegungen im Globalen Süden solidarisieren.
Dann wäre es sinnvoll, darauf hinzuarbeiten, dass Kunst und Kultur auch in die „SDG-Bubble“ aufgenommen werden! Leave no transformative idea and no one behind!
Der Text stellt eine gekürzte Version eines Beitrags für die erste Schriftenreihe des Cultural Policy Lab der LMU München dar (Link zur Veröffentlichung mit Referenzen und Verweisen).
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