Die Ohnmacht in konstruktiven Zorn verwandeln
Christina Madenach
22. November 2021
Vor zwanzig Jahren, mit 13, trat ich der Münchner Jugendgruppe von Greenpeace bei, weil ich mitbekommen hatte, dass sich etwas ändern musste, wenn wir nicht diesen Planeten und damit auch unsere Lebensgrundlage zerstören wollten. Was auch damals bereits längst bekannt war, ist nach wie vor brandaktuell. Die Situation hat sich in den letzten zwanzig Jahren nicht verbessert, sie hat sich sogar verschlechtert: Wir fahren schnellere und größere Autos, kaufen häufiger und aufwendigere technische Geräte wie beispielsweise Handys und haben einen mit jedem Jahr erhöhten Energieverbrauch – um nur einige wenige Auslöser für den Klimawandel zu nennen.
Wenn Fridays for Future in diesen Tagen noch einmal betonen, dass JETZT etwas geschehen muss, um das 1,5 Grad-Ziel einhalten zu können, aber nichts oder zu wenig geschieht, oder wenn ich meinen ökologischen Fußabdruck berechnen lasse und wir alleine durch den Sockelbetrag, der durch die bereitgestellte Infrastruktur in Deutschland entsteht, schon beinahe den ganzen Planeten aufbrauchen würden – hätten alle Menschen diesen Fußabdruck –, löst das in mir ein Gefühl der Ohnmacht aus.
„How dare you!“ und „Sie sollten sich schämen.“
Ohnmacht ist ein Gefühl der Machtlosigkeit und Hilflosigkeit, das in Frustration und Wut münden kann. Der Rechtsruck in unserer Gesellschaft zeugt davon. In der Psychologie wird das Gefühl der Wut zunächst neutral bewertet, da es sich bei ihr in Teilen auch um eine sinnvolle Regung handelt. Positiver aufgeladen noch ist der Begriff des Zorns, der distanzierter als die Wut definiert wird und sich auf allgemeine als ungerecht empfundene Umstände beziehen kann (1).
Die Verknüpfung von Zorn und Engagement werden sichtbar in dem bereits in die Geschichte eingegangenen emotionalen Ausruf Greta Thunbergs vor dem UN-Klimagipfel in New York 2019:
„How dare you!“
(2) oder in der Äußerung der Klimaaktivistin Lauren MacDonald auf der erst kürzlich stattgefundenen Ted Conference in Edinburgh gegenüber dem Shell-Chef: „Sie sollten sich schämen.“ (3) Auch ich würde gerne meine Ohnmacht in Zorn verwandeln, um meine Handlungsfähigkeit wiederherzustellen und aktiv für einen politischen und kulturellen Wandel einzutreten.
Sich Gehör verschaffen
Im selben Jahr, in dem ich mich bei Greenpeace für den Erhalt der Umwelt zu engagieren begann, rief das Tutzinger Manifest zur Einbeziehung der Kultur bei der Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung auf. Im selben Maße wie sich die Gesamtsituation verschlechtert hat, haben sich die Forderungen von vor zwanzig Jahre zugespitzt – im Bereich des Klimas aktuell formuliert u.a. von Fridays for Future, unterlegt und unterstützt von den Forschungserbergebnissen und Erkenntnissen zahlreicher Wissenschaftler*innen.
Einer Einbeziehung der kulturellen Möglichkeiten für eine neue Zukunftsperspektive liegen auch nachhaltige Strukturen im Kulturbetrieb selbst zu Grunde, da diese erstens essentiell angesichts der globalen klimatischen Veränderungen sind, zweitens die Voraussetzung für verbesserte Rahmenbedingungen der Kulturarbeit bilden und drittens vorbildhaft für andere Branchen gelten können. Der weite Begriff der Nachhaltigkeit – die Strukturen des Kulturbetriebs betreffend – umspannt u.a. die Klimaneutralität von Kulturveranstaltungen und Kulturinstitutionen; faire Arbeitsbedingungen und Bezahlung; Förderstrukturen, die auf langfristige Projekte zielen und nicht auf kurzlebige Eventkultur; Förderung von Inklusion und Teilhabe; Gleichberechtigung in Bezug auf race, class, gender, sexual orientation, age, disability.
Sowohl in der Klima- als auch in der Kulturpolitik liegen die richtigen Forderungen und Warnungen vor. Das Problem ist, dass diese anscheinend entweder von zu wenigen gehört oder dass sie gehört und dann wieder vergessen oder verdrängt werden. Ziel wäre es also, diesen Forderungen noch mehr Gehör zu verschaffen – sowohl auf politischer Ebene (nur hier kann strukturell etwas geändert werden) als auch auf persönlicher Ebene (denn hierbei handelt es sich um die Wähler*innen, die die Zusammensetzung der Politik bestimmen).
Der Klimawandel als „Aggregatzustand unseres Seins“
Die Äußerung: „Dieses Buch/Musikstück/Bild hat mich nachhaltig berührt“ weist auf eine Qualität des Kunstwerks hin und auf den emotionalen Zustand, den es ausgelöst hat – nicht jedoch auf den Inhalt des Werks. Die Äußerung könnte sich auf einen Klima-Thriller beziehen oder auf eine Performance, die eines oder mehrere der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele zum Thema hat. Sie könnte sich auch auf eine Kunstform beziehen, die sich im weitesten Sinne mit Natur beschäftigt – wie beispielsweise das immer populärer werdende Nature Writing (4) oder Staging Nature-Projekte (5) –, oder auf Kunst, die auf keine Weise offensichtlich politisch ist.
Auf die Frage hin, inwiefern sich die ökologische Krise auf die zeitgenössische Literatur niederschlägt, wies Bernd Ulrich in der Zeit daraufhin, dass es sich beim Klima überhaupt nicht um ein „Thema“, sondern vielmehr um einen „neuen Aggregatzustand unseres Seins“ handele (6). Selbst wenn sich Kunst nicht ausdrücklich mit den Themen unserer Zeit beschäftigt, schwingt der gesellschaftliche und politische Entstehungs- und Rezeptionskontext – der „Aggregatzustand unseres Seins“ – immer subtil mit.
Eines meiner Lieblingsbücher – „Letzte Geschichten“ (7) von der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk – setzt sich mit dem Sterben auseinander. Wie sich die Menschen gegenüber dem Tod verhalten, welche Stellung er im Leben einnimmt und was das wiederum über unsere Sicht auf das Leben aussagt – das Verhandeln dieser Themen in der Kunst dockt unmittelbar an Fragen an, in denen wir uns wiedererkennen können, und ist gerade deshalb höchst politisch. Wenn die Protagonistin bei Tokarczuk noch wochenlang mit dem Leichnam ihres verstorbenen Mannes spricht, wirken die Bedächtigkeit und die Rhythmik dieser Handlung in mir fort und verändern dadurch meinen Blick auch auf andere Kontexte.
JETZT handeln
Das Tutzinger Manifest von 2001 fordert dazu auf, die Kultur im Zusammenspiel unterschiedlicher Disziplinen für eine zukunftsfähige Entwicklung als grundlegend zu begreifen. Eine Besonderheit der Kunst liegt darin, Menschen durch Geschichten und Bilder mehr als einfach nur Sachverhalte zu vermitteln. Um
Tokarczuk aus einem Interview mit der Deutschen Welle zu zitieren: „Ich schreibe vielmehr Bücher, um die Köpfe der Menschen zu öffnen, um neue Sichtweisen, neue Perspektiven zu zeigen. Dass das, was sie als offensichtlich ansehen, nicht so offensichtlich ist. Dass man eine triviale Situation aus einem anderen Blickwinkel betrachten kann und plötzlich andere Bedeutungen und Ebenen enthüllt“ (8). Und dafür findet die Kunst immer wieder neue und andere Formen des Ausdrucks, sodass Menschen mit unterschiedlichsten Erfahrungshintergründen Zugang finden können.
Weil die Kunst sich auf ihre Weise immer mit den Fragen des Menschseins auseinandersetzt, weil sie unseren Blick darauf hinterfragt und öffnet und weil dies auch auf einer emotionalen Ebene geschieht und deshalb nachhaltig wirken kann, ist die Kunst unabdingbarer Teil der Auseinandersetzung mit unseren Lebensbedingungen und dem Umgang damit. Und noch mehr: Sie kann Auslöserin von Taten sein, denn sie hat das Potenzial, uns wachzurütteln und unsere Ohnmacht angesichts der desaströsen Klimasituation zu überwinden und in einen Zorn zu verwandeln, der über bloße Forderungen und Warnungen hinausgeht – in einen Zorn, der zu einem Handeln JETZT führt.
Quellen
(1) Siehe dazu: Stangl, Werner (2021): Stichwort: „Zorn“, in: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik (Link).
(2) Siehe dazu: Diez, Georg: Greta Thunbergs „How dare you“. Angst und Endlichkeit, in: taz (28.09.2019,
Link).
(3) Siehe dazu: Kreye, Andrian: Ted Conference. Tränen der Wut, in: Süddeutsche Zeitung (18.10.2021,
Link).
(4) Siehe dazu: Matthes & Seitz Berlin: Über den Deutschen Preis für Nature Writing (Link).
(5) Siehe dazu: Rausch, Tobias: Schauspiele jenseits des Menschen, in: nachtkritik.de (16.10.2019,
Link).
(6) Ulrich, Bernd: Literatur und Klimawandel. Warum, zur Hölle? In: Zeit (20.10.2021,
Link).
(7) Siehe dazu: Tokarczuk, Olga (2006): Letzte Geschichten, Zürich: Kampa Verlag (Link).
(8) Tokarczuk, Olga: „Literatur ist zum Denken da“ im Interview mit Michal Gostkiewicz, in: Deutsche Welle (11.10.2019,
Link).
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