Resilienz, Gesundheit und Transformation
Christine Fuchs
13. Dezember 2021
Schon immer haben sich Kunst und Kultur mit den Herausforderungen ihrer Zeit beschäftigt, haben wesentliche Antworten auf sie gefunden und die Epochen geprägt. Die größte Herausforderung unserer Zeit ist der Klimawandel. Dieser Beitrag will auf Potenziale von Kunst und Kultur im menschengemachten Klimawandel hinweisen. Kunst und Kultur werden in belastenden Zeiten ganz besonders wichtig: Sie sind wirksame Ressourcen für sozialen Zusammenhalt, Gesundheit und Resilienz.
Klimawandel – eine Herausforderung für die Kulturpolitik
Der Klimawandel verändert unser Leben. Die Maßnahmen zur Anpassung wie zur Eindämmung des Klimawandels werden grundlegende Veränderungen unserer Lebensweise notwendig machen. Deutschland hat sich zur Einhaltung der Pariser Klimaziele verpflichtet, und die Kulturpolitik wird sich anpassen und neu ausrichten müssen. Dazu zählt die klimataugliche Ertüchtigung der Kultureinrichtungen und Festivals. Es wird auch noch nach Corona weniger Kulturtourismus geben und niedrigere Besucher*innenzahlen, Kulturveranstalter*innen werden sich mit ihren Klimabilanzen beschäftigen, CO2-Vorgaben und Preissteigerungen werden bisherige Kulturformate in Frage stellen und manche kulturellen Vorhaben scheitern lassen.
Die Kulturpolitik wird sich zudem mit den sozialen Folgen des Klimawandels zu beschäftigen haben, die der Situation unter Corona in manchen Punkten ähneln wird. Mit den nächsten Hitzewellen, Hochwassern und Waldbränden werden auch Angst und Verunsicherung, Proteste und Polarisierung zunehmen. Die Transformation der Wirtschaft wird eine Herausforderung für Betroffene, die das Scheitern ihrer Lebensentwürfe erleben werden. Und schließlich wird der digitale Wandel die soziale Isolation verstärken und das Leben einsamer machen.
Kulturpolitik wird die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse begleiten müssen. Hierfür wird es ein Mehr an Kultur brauchen – kein Weniger. Neue Kulturformate und Programme werden nötig sein, aber auch ein Umdenken und Abschiednehmen von liebgewonnen Zielen und Strategien. Die gute Nachricht ist: Die Künste haben hierfür alles Potenzial. Sie können Menschen und Gesellschaften helfen, Krisen zu überstehen und sich an neue Lebenssituationen anzupassen (Resilienz / Gesundheit). Und sie können sich in der Tradition der Avantgarden mit anderen Lebensbereichen verbinden und diese verändern (Transformation).
Potenziale der Künste
Resilienz ist die Fähigkeit, Krisen und existentielle Herausforderungen zu bewältigen – beispielsweise, um die Stabilität von Gemeinwesen zu sichern. Alle Kulturen haben in ihren künstlerischen Traditionen Wege entwickelt und weitergegeben, die Zusammenhalt und Gemeinsinn fördern – beispielsweise in der Musik und den literarischen Sprachwerken. Sie haben Rituale und Feste geschaffen, die Stabilität und Freude in das Leben bringen und im gemeinschaftlichen Erleben Sicherheit schaffen. Kunst und Kultur sind entscheidende Resilienzfaktoren. Alle kennen die beruhigende Wirkung von Musik und Rhythmus. Ein Konzertbesuch kann eine innere Kraftquelle über Tage und Wochen sein, ein Ausstellungsbesuch die seelischen Batterien von Kunstfreund*innen aufladen und ein Ballettabend oder eine Clubnacht als Lebenselixier wirken. Kulturerleben gibt Lebenssinn und Lebensfreude, schafft Verbundenheit und dient der Regeneration von Menschen und Gemeinschaften.
Gerade im Hinblick auf die mit dem Klimawandel wachsenden Herausforderungen werden die Künste und die Kultur als Resilienz stärkende Ressource immer wichtiger. Kultur ist auch in diesem Sinn Orientierungssystem. Gesundheit hat eine gewisse Nähe zur Resilienz – und zur Kultur. Denn kulturelle Teilhabe fördert die Gesundheit. Die WHO hat 2019 auf die gesundheitsfördernden Wirkungen der Künste hingewiesen und die Gesundheitseinrichtungen dazu aufgerufen, kulturelle Programme aufzunehmen (1). Kulturpolitik kann auf diese Initiativen reagieren und die Kooperation mit dem Gesundheitsbereich suchen. Sie kann sich die potenziell gesundheitsfördernden Wirkungen der Künste bewusst machen, die als heilsame „Nebenwirkungen“ die ansonsten ästhetisch wie verfassungsrechtlich freie Kunst begleiten können.
Mittlerweile gibt es umfangreiche medizinische Forschung zu den heilsamen Wirkungen der Künste. So ist beispielsweise nachgewiesen, dass Literatur und kreatives Schreiben die zelluläre Immunaktivität stärken, die Wundheilung nach Operationen beschleunigen und den Immunisierungsschutz nach Impfungen verbessern (2). Empirische Studien belegen, dass Mozarts Klaviersonaten bei der postoperativen Behandlung positiv wirken (3) und bei Gesunden fördert Musikhören die Psychoimmunologie, reduziert Stressfolgen und mindert das Risiko von Herzversagen. Besonders relevant sind Kunst und Kultur im Bereich der psychischen Gesundheit. Die künstlerischen Therapien haben dieses Feld seit den 1980er Jahren fachlich ausdifferenziert und stellen ein Kompendium an heilsamen Methoden zur Verfügung, die auch präventiv wirken, zur Lebenszufriedenheit beitragen sowie Gesundheit und Resilienz fördern.
Transformation, Gestaltung und Um-Formung sind Grunddynamiken der Bildenden Kunst (wie auch anderer Disziplinen). In der Tradition der Avantgarden bezieht die Kunst außerkünstlerische Bereiche ein, meist getragen von der Idee, die Kunst ins Leben zu erweitern, sie gesellschaftlich wirksam werden zu lassen. In dem großen Feld der engagierten Kunst finden sich unzählige Lösungen und Modelle zur Transformation unserer Gesellschaft hin zu Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Gerechtigkeit. Kunstausstellungen, Biennalen und Kunstkataloge sind voll von künstlerischen Projekten zur nachhaltigen Entwicklung. Ihre praktische Anwendung scheitert jedoch an einem zu engen Kulturfördersystem, das ressortübergreifende Förderung verhindert, statt sie zu fördern. Welche Potenziale in einer anderen und ressortübergreifenden Kulturförderung lägen, hat beispielsweise die Initiative des Fonds für Ästhetik und Nachhaltigkeit FÄN (4) hinreichend dargelegt. Die Chancen für unsere Gesellschaft liegen in zahlreichen Veränderungsimpulsen, die für den kulturellen Wandel und die Transformation wirksam werden können.
Anwendungsbereiche zwischen Public-Health-Auftrag und Gesundheitsförderprogrammen
Kultureinrichtungen
haben einen Public Health-Auftrag – so sehen es zumindest die Stressforscher*innen. Vor allem in Großstädten wirkt der Besuch von Ausstellungen, Konzerten und Theateraufführungen der Vereinsamung und einem ständig wachsenden Stadtstress entgegen (5). Kultureinrichtungen können als Orte der Gesundheitsförderung verstanden und entwickelt werden. Sie geben Menschen Gelegenheit, sich zu erfreuen und Kraft zu schöpfen, Schönheit zu erleben, ihre Seele zu nähren und den Dialog zu üben. Die Resilienz stärkende Wirkung der Kultureinrichtungen wurde im Zuge der Corona-Lockdowns intensiv diskutiert, aber auch praktiziert. Einige Museen nehmen sich bereits dem Thema Gesundheitsförderung an. So gibt es mittlerweile Programme für Krebspatient*innen und Demenzkranke in Museen (Bode-Museum Berlin, Bundeskunsthalle Bonn, Städel Museum Frankfurt) sowie Kulturprogramme zur Suchtprävention (Kulturjahr Sucht in Dresden). Im Rahmen des bayernweiten Netzwerks STADTKULTUR haben bayerische Kommunen mit ihren Kultureinrichtungen Kulturprojekte zur Gesundheitsförderung und Resilienz durchgeführt, die in den deutschen Staatenbericht zur Umsetzung der UNESCO-Konvention aufgenommen und zur Weiterentwicklung empfohlen wurden (6).
Kulturelle Bildung nutzt die heilsamen Wirkungen der Künste bereits in der Heilpädagogik und in der Sozialen Arbeit. Die Anwendung ließe sich auf eine allgemeine Gesundheitsförderung erweitern, und bei entsprechender Ausgestaltung der Bildungsangebote lassen sich neue Publikumsschichten erschließen. Die Bedarfe an derartigen Angeboten steigen – aktuell wegen der Corona-Folgen, aber auch für die Burnout- und Suchtprävention, in der allgemeinen Gesundheitsförderung (7) und zur Stärkung der Resilienz.
Kulturförderung und Gesundheitsförderung könnten zusammenwirken und neue Formate und Angebote entwickeln. Eine ressortübergreifende Förderung wäre darüber hinaus auch in anderen Lebensbereichen sinnvoll, in denen die Künste Ansätze und Vorhaben in Richtung Nachhaltigkeit entwickeln und wertvolle Impulse geben. Kulturpolitik sollte sich für mehrperspektivische, ressortübergreifende Fördermodelle und Zusammenarbeit einsetzen (4) – und das möglichst auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene.
Ästhetik der Nachhaltigkeit
Vor 20 Jahren hat das legendäre Tutzinger Manifest die Kulturpolitik aufgefordert, die Ästhetik in die Nachhaltigkeitsagenda einzubeziehen. Die Kulturpolitik ist an dieser Herausforderung gescheitert. Sie hat keine eigene Position zur Ökologie gefunden – weder zum Klima noch zur Natur. Warum ist die Ästhetik der Nachhaltigkeit kein Thema der Kulturpolitik geworden? Obwohl viele Künstler*innen und Kulturschaffende sich für Natur und Klima engagieren, wurde die Nachhaltigkeit kein strategisches Konzept, sondern blieb auf Einzelprojekte und Initiativen der Kulturellen Bildung beschränkt.
Vielleicht liegt es daran, dass Nachhaltigkeit als ökonomisches Bilanzierungsprinzip beim Kunstschaffen allenfalls ein Werkzeug unter vielen sein kann. Künstlerische Arbeitsweise hat auch mit Fülle, Überfluss oder Verschwendung zu tun. Sie braucht das Experiment, das Scheitern, den erneuten Versuch, den Zweifel. Ob in diesen Prozessen ein Werk glückt, ob es ein großes Werk wird und eine besondere Wirkung entfaltet, das ist alles nicht vorherzusehen. Im künstlerischen Methodenkoffer kann Nachhaltigkeit zwar ein Werkzeug, doch keinesfalls der Maßstab sein. Denn das Wesentliche eines Kunstwerks ist immateriell – nicht materiell. Daher sind Materialverbrauch und CO2-Bilanzen keine Kriterien, die sich in Beziehung zu Inhalt und Qualität von Kunst setzen lassen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass Künstler*innen nichts zur Nachhaltigkeit beitragen können. Ganz im Gegenteil! Wie oben gezeigt, liegen die Potenziale der Kunst im Hinblick auf Nachhaltigkeit im Wesentlichen darin, dass sie mit ihren Werken zur Resilienz und Gesundheit der Menschen und Gemeinschaften beitragen. Und sie liegen in den künstlerischen Arbeitsweisen, die mit ästhetischen Mitteln Welt gestalten und damit auch Denk- und Handlungsmuster verändern und zur Transformation in Richtung Nachhaltigkeit beitragen können.
Neue Leitmotive
Kultur im Klimawandel kommt die Aufgabe zu, sich selbst – also Künste und Kulturen – als Lebenstechnik zu begreifen und ins Spiel zu bringen. Der hier unternommene Versuch, Kunst und Kultur mit Gesundheit und Resilienz zusammenzudenken, ist von dem Wunsch getragen, das Lebendige, die Lebewesen, stärker in den Blick zu nehmen, die Wechselwirkungen zur Umwelt zu beachten und ihnen Raum zu geben. Lebewesen – Menschen zum Beispiel - sind sterblich. Sie können krank und wieder gesund werden. Auch unser Planet ist keine Maschine, sondern ein Organismus. Er wird von Lebewesen bewohnt. Die Erde hat Fieber – und Technik allein wird nicht ausreichen, es wieder zu senken. Da die Klimakrise Folge der rasanten technischen Entwicklung ist und ein Problem nur selten mit den gleichen Mitteln gelöst werden kann, die es hervorgebracht haben – wie Albert Einstein sagte. Auf der Suche nach dem notwendigen Kulturwandel für die „große Transformation“ (8) schlage ich daher vor, über Kulturen der Regeneration und Kulturen des Gesundens nachzudenken. Gesundheit und Resilienz sind Motive, die positiv in die Zukunft weisen. Sie könnten einen gedanklichen Möglichkeitsraum öffnen.
Quellen
(1) Östlin, Piroska (2019): Lassen sich durch Tanzen Gesundheit und Wohlbefinden verbessern?
Link.
(2) Schubert, Christian (2019): Bewusstwerdung als Heilung – die Wirkungen künstlerischen Tuns auf das Immunsystem. In: von Spreti, Flora / Matrius, Phillip / Steger, Florian (Hrsg.): KunstTherapie – Wirkung, Handwerk, Praxis (78). Stuttgart: Schattauer.
(3) Schubert, Christian (2019): Bewusstwerdung als Heilung – die Wirkungen künstlerischen Tuns auf das Immunsystem. In: von Spreti, Flora / Matrius, Phillip / Steger, Florian (Hrsg.): KunstTherapie – Wirkung, Handwerk, Praxis (82). Stuttgart: Schattauer.
(4) Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit – FÄN,
Link.
(5) Adli, Mazda (2017): Stress and the City. Und warum sie trotzdem gut für uns sind. München: C. Bertelsmann Verlag.
(6) Auswärtiges Amt (2020): Dritter Staatenbericht zur Umsetzung der UNESCO-Konvention (22-25),
Link.
(7) Fuchs, Christine (2020); „Ich mach dich gesund…”: Kulturelle Bildung und Gesundheitsförderung. In: Kulturelle Bildung Online,
Link; Fuchs, Christine (2021) Gesund mit Kunst? – Ein neues Handlungsfeld in der Kulturellen Bildung. Veröffentlichtes Vortragsmanuskript – Lab-Symposium zu Kultur und Gesundheit, Gasteig Kulturstiftung München,
Link.
(8) Schneidewind, Uwe (2018): Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt am Main: Fischer Verlage.
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