Die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeitstransformation
Martin Held
11. November 2021
Eine sozial-ökologische Transformation steht an. Tiefgreifende Veränderungen sind dringlich auf den Weg zu bringen, um von einer noch immer dominant nicht-nachhaltigen Entwicklung in Richtung einer nachhaltigeren Entwicklung umzusteuern. Diese Einsicht greift um sich, nicht zuletzt aufgrund der bereits spürbar zunehmenden Wetterextreme als Folge des Klimawandels.
Macht’s die Technik?
Das Offenkundige steht bisher im Mittelpunkt: Das Energiesystem muss 100 Prozent erneuerbar werden, die fossilen Energieträger entsprechend zurückgefahren werden. Bei der Mobilitätswende wird die Antriebswende bei den Akteuren wie der Automobilwirtschaft ernsthaft als notwendig gesehen, mit Digitalisierung angereichert.
Technologische Fragen dominieren. Debatten gehen über ökonomische und andere Instrumente. Wenn es gut geht, kommen Gerechtigkeitsfragen zumindest etwas mit in den Blick. Das Versprechen von BAU light, wie wir das nennen, ist vorherrschend: Business as usual mit möglichst wenig Änderungen. Die Technik macht’s. So die Vorstellung.
Schaut man zurück, dann ist offenkundig: Das ist nur ein Teil. Derartig grundlegende Umwälzungen sind immer zugleich tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen. Grundlegende Transformationen wie etwa der Übergang zu den fossilen Energien und Basisinnovationen wie Dampfmaschine, Eisenbahnen, Verbrennungsmotor und viele mehr haben in alle Lebensbereiche eingegriffen, veränderten Alltagskulturen ebenso wie vorherrschende kulturelle Frames: schneller, mehr, weiter wurden zu übergeordneten Leitmotiven der erfolgreichen und zugleich nicht-nachhaltigen Entwicklung.
Die anstehenden Transformationen in der Energie-, Mobilitäts-, Rohstoff-, Agrarwende – um nur einige der wichtigsten Bausteine der Nachhaltigkeitstransformation zu nennen – werden die Kultur nicht weniger weitreichend ändern. Eine rein technologische Veränderung geht sich nicht aus.
Kultur als genuiner Bestandteil von Nachhaltigkeitstransformation?
Mit der auf der UN Konferenz 1992 in Rio verabschiedeten Agenda 21 wurde ein kurzes Zeitfenster genutzt, um eine Umorientierung in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung weltweit verbindlich zu machen. Wie es im „Tutzinger Manifest für die Stärkung der kulturell-ästhetischen Dimension Nachhaltiger Entwicklung“ formuliert wurde: die „Agenda 21 wurde als Strategie für eine zukunftsfähige Entwicklung [für] das Zusammenspiel von Ökonomie, Ökologie und Sozialem ausgearbeitet.“
Das begünstigte in der Folgezeit eine additive Vorstellung von den drei Säulen. Die Agenda war einerseits ein Durchbruch – ökologische und soziale Fragen gewannen an Bedeutung, sie wurden zusammen mit der Ökonomie zu Zielgrößen. Zugleich gelang es jedoch nicht, die kulturelle Dimension einer Transformation in Richtung einer nachhaltigeren Entwicklung als genuinen Bestandteil dieser Transformation zu etablieren. Zu quer lag diese Dimension zur Vorstellung der drei Säulen. Kulturelle Fragen einschließlich von Gestaltungsfragen und Ästhetik kam in dieser 3-Säulen-Welt der Agenda 21 damit eine Rolle zu, wie sie im Bau häufig anzutreffen ist: Kunst am Bau verstanden als schmückendes Beiwerk zu einem technologisch ausgerichteten und ökonomisch profitablen Bauwerk, im Nachhinein dazu kommend.
Das Tutzinger Manifest, das aus der Tagung „Ästhetik der Nachhaltigkeit“ (April 2001) der Evangelischen Akademie Tutzing in Kooperation mit der Kulturpolitischen Gesellschaft hervor gegangen ist, brachte das Offensichtliche auf den Punkt: Die Nachhaltigkeitstransformation ist zugleich eine kulturelle Herausforderung – nichts weniger als „grundlegende Revisionen überkommener Normen, Werte und Praktiken in allen Bereichen“ sind gefordert. „Nachhaltigkeit braucht und produziert Kultur“. Das Manifest war, um das mit einer Metaphorik zu umschreiben, eine Art Archaeopteryx: Es zeigte schon eine Art Fliegen, aber es war noch kein ausgebildeter Vogel.
Kulturelle Aufgaben
Heute, 20 Jahre später, können wir ausgehend von diesem Blick zurück nach vorn weiter gehen, die übergreifende Bedeutung der kulturellen Dimension der anstehenden Umwälzungen aufzeigen, in allen ihren Richtungen, Ausprägungen und Facetten: für Kultureinrichtungen und Kunstwirtschaft in ihrem Selbstverständnis und für ihre Aktivitäten; für ihre Rolle in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung der transformativen Schritte; für die Rolle der Kultur und Kunst in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Schritte des Umsteuerns in allen Lebensbereichen.
Das schließt Gestaltung im engeren Sinn angemessenen Designs von Produkten und Infrastrukturen ein, ebenso Fragen der Gestaltung des öffentlichen Raums, eine Vermittlung der Abkehr von immer mehr – immer mehr Ressourcenaneignung, immer mehr Energieumsatz, immer mehr von allem. Es umfasst die kreative Auseinandersetzung mit dem Unterlassen, Raum lassen für Entwicklungen etwa von Naturräumen ebenso wie von Potenzialen, in denen sich Kinder autonom und nicht dauerkontrolliert entfalten können. Nehmen wir als einfaches Beispiel die Aufgabe der kreativen Weiterentwicklung von
soundscapes: In der fossil geprägten Perspektive wird der Eindruck vermittelt, das Problem von Elektrofahrzeugen sei ihre mangelnde Hörbarkeit – echt gefährlich sei das. Die krankmachenden, fossil getriebenen Lärmlandschaften dienen als Referenz. Das Neue, Positive wird vorab abgewertet. Das gilt es zu überwinden, hinter uns zu lassen.
Ein Umgang mit den Ängsten vor den katastrophalen Folgen des verspäteten Handelns, Stichwort halbherziges und verspätetes Umsteuern der Klimapolitik, ist eine extrem herausfordernde kulturelle Aufgabe. Die Gestaltung von Lebensstilen, Stadtvierteln als lebenswerte, attraktive Umfelder, Baustile, Stadtstrukturen, die im wahren Wortsinn eine auf Dauer mögliche, zukunftsfähige Entwicklung fördern – das und noch viel mehr sind alles kulturelle Aufgaben der Nachhaltigkeitstransformation.
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