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Wirksamkeit

 

Für eine Kultur der Nachhaltigkeit im digitalen Zeitalter

Beate Winkler

11. Oktober 2021

 


1. Wir sind in einer tiefen Identitätskrise


Die Dramatik des gesellschaftlichen Veränderungsprozesses, in dem wir uns befinden, wird immer noch nicht zureichend erfasst. In fast allen Bereichen unseres Lebens findet ein tiefgreifender Wandel statt: Digitalisierung, Klimawandel, radikale Ökonomisierung und Beschleunigung unseres Lebens, Migration, Globalisierung, Wertewandel – um nur einige Beispiele zu nennen. Wenn in einer Organisation in allen Bereichen gleichzeitig tiefgreifende Veränderungen stattfinden, besteht die Gefahr, dass diese ihre Identität verliert. Und diese Identitätskrise findet jetzt in unserer Gesellschaft statt. 

 


2. Uns fehlen Zukunftsbilder


Wir haben keine Zukunftsbilder mehr. Jeder Veränderungsprozess ist mit Widerstand verbunden, weil Wandlung unserem Sicherheitsbedürfnis widerspricht. Er kann überwunden werden, wenn wir Bilder von der Zukunft haben, die positiver sind als die Abwehr, die mit jedem Veränderungsprozess einhergeht. Genau an diesen Bildern mangelt es. Wir leben in einer visionslosen Gesellschaft. 


3. Das leere Papier als Symbol von Möglichkeiten – Unsere Haltung ist entscheidend


Probleme kann man bekanntlich – um mit Albert Einstein zu sprechen - niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind. Wir brauchen unverstellte Sichtweisen auf Lösungsmöglichkeiten, damit wir nicht die Antworten von gestern downloaden für die Fragen von Heute und Morgen. Dafür brauchen wir Freiraum für Suchbewegungen. Freiraum wie vor einem leeren Blatt Papier. Gefragt ist nach unserer Haltung, wie wir uns auf das leere weiße Papier einlassen: Sind wir offen für die Offenheit?


4. Gesellschaftlich übergreifende Prozesse initiieren


Für die aufgeworfenen Fragen gibt es weder einfache Antworten noch Patentrezepte. Zu ihrer Lösung brauchen wir langfristige Strategien und neue Formen der Zusammenarbeit. Das kann uns gelingen, wenn wir – die Kulturpolitische Gesellschaft – gemeinsam mit anderen Organisationen Prozesse initiieren, die von der gegenwärtigen Situation ausgehen und Fragen nachgehen wie: „In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wie können wir eine Kultur der Nachhaltigkeit mit unseren Wünschen und Bedürfnissen in Einklang bringen? Wo liegen die wirksamsten Hebel für Veränderungen?“ 

 

5. Der Blick auf die Chancen – ohne die Probleme zu verschweigen 


Wir können den Blick für die Potentiale in unserer Gesellschaft schärfen und die Vermittlung von Bedrohungsszenarien vermeiden. Zum Beispiel beim Thema „interkulturelles Zusammenleben“. Das ganze Potential des interkulturellen Zusammenlebens wird immer noch zu stark unter negativen Aspekten diskutiert, die Digitalisierung zu wenig nach Chancengerechtigkeit und den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet. Hier heißt es viel stärker in „und“ und nicht in „oder“ zu denken: Chancen UND Probleme.


6. Der Blick auf die Zukunftsbilder


Zukunftsbilder für eine Kultur der Nachhaltigkeit sollten nicht nur so überzeugend und faszinierend sein, sodass sie attraktiver sind als die Abwehr, die mit jeder Veränderung einhergeht, sondern auch in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs entstehen und verankert werden. Dabei sollten neue Beteiligungsverfahren der Bevölkerung und interaktive Kulturprojekte im Mittelpunkt stehen.


7. Kunst und Kultur in den Mittelpunkt der Gesellschaft stellen


Gerade in Zeiten epochaler Umbrüche, wie wir sie jetzt erleben, ist Kunst eine zentrale Kraft für die Gestaltung neuer Herausforderungen. Viel zu wenig werden diese Ressourcen kreativ bei Veränderungsprozessen genutzt. Aufgabe von der Kulturpolitischen Gesellschaft sollte es sein, diesen Aspekt aktiv in den Vordergrund zu stellen und diese Ressource bei der Entwicklung von gesellschaftlichen Strategien der Politik zur Verfügung zu stellen. Eine „Kultur für alle“ könnte um eine „Kultur für den Wandel“ ergänzt werden.


8. Beteiligung der Bevölkerung


Der Wunsch vieler Bevölkerungsgruppen, stärker beteiligt und vor allem gehört zu werden, wird immer lauter. Das sollte viel stärker in den Fokus gerückt werden, um Fähigkeiten und Begabungen ganz unterschiedlicher Menschen besser zu nutzen, Gefühlen von Ohnmacht entgegenzuwirken und den Zusammenhalt zu stärken. Um den Wunsch nach Beteiligung besser realisieren zu können, kann auf neue Verfahren wie die der Bürgerräte zurückgegriffen werden, die jetzt zur Stärkung der Demokratie auch vom Deutschen Bundestag eingesetzt werden.


9. Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene und „Leuchttürme identifizieren“


Bürgermeister*innen und Kommunen kommt bei Veränderungssituationen eine besondere, zentrale Rolle zu. Besonders auf regionaler Ebene gibt es viele Initiativen, die pionierhafte Vorhaben zur Nachhaltigkeit initiiert haben. Diese „Erfolgsmodelle“ des nachhaltigen Wandels sollten in einer „Landkarte des nachhaltigen Wandels“ erfasst und Netzwerke dadurch gestärkt werden. Sie zeigen, wie Veränderung gelingen kann.


Fazit: Die Notwendigkeit des öffentlichen Diskurses und der breiten Beteiligung


Wir brauchen einen breiten öffentlichen Diskurs zu: „In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wie können wir eine Gesellschaft entwickeln, die Nachhaltigkeit, Chancengerechtigkeit und individuelle Entfaltungsmöglichkeiten fördert und gleichzeitig die Gemeinschaft, das WIR unterstützt?“ – einen öffentlichen Diskurs, der von der Kulturpolitischen Gesellschaft und dem Tutzinger Manifest angestoßen werden kann, der in die deutsche Gesellschaft auf regionaler und nationaler Ebene hineinwirkt und mit Initiativen der EU wie das neue Europäische Bauhaus verknüpft werden kann.

Autorin


Beate Winkler

Beate Winkler ist Künstlerin und Menschenrechtspolitikerin. Sie war die erste weibliche Direktorin einer EU Agentur überhaupt, der jetzigen EU-Grundrechtsagentur (FRA) mit Sitz in Wien, die sie aufgebaut und 9 Jahre geleitet hat. Ebenso war sie Mitglied im Vorstand der Kulturpolitischen Gesellschaft und hat das Thema „interkulturell“ dort eingebracht. Im Mittelpunkt ihres Wirkens stehen jetzt Kunst und künstlerische Projekte, die den Dialog vor allem mit der Zivilgesellschaft stärken, z.B. bei dem Projekt #newTogether, das Teil des Programms von „Timisoara European Capital of Culture 2023“ ist und schon 2021 beginnt. 

Foto Aleksandra Pawloff

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